Video „Poem“

Aus Marc Pendzichs Blog „LebeLieberLangsam“, 29. September 2017 | mehr zum Album SELMA (2016)

Heute habe ich das Glück, ein Video zu meiner Musikproduktion zu Selma Merbaums Text „Poem“ zu veröffentlichen, mit den ebenso einfühlsamen wie eindringlichen Vocals von Danny Merz.

Selma Merbaums Zeilen werfen unmittelbar die Frage nach dem Thema dieses Blogs [www.lebelieberlangsam.de] auf, nach dem guten Leben, dem Wert des Lebens, nach Toleranz und Freiheit.

youtu.be/zX5hSPwFU78

vimeo.com/233827781

Das von Christian Kalnbach produzierte Video nimmt auf der visuellen Ebene Selma Merbaums Natur-Motiv auf. Wir sehen durch die Kamera die Welt/Umgebung sozusagen mit Selma Merbaums Augen, erleben visuell die geballte Schönheit der Natur/des Lebens… Und diese Schönheit bekommt nun in bestimmten Passagen des siebenminütigen Clips entsprechend der von Selma Merbaum so eindrücklich geschilderten Bedrohung etwas Gefährliches, Gefährdetes: durch Kameraführung und Motivik wird diese Bedrohung des wertvollen Guts, das wir Leben nennen, spürbar.

Lange habe ich – trotz meiner Neugier und Faszination – nicht begreifen können, woher Selma Merbaum überhaupt die Kraft nahm, inmitten von Chaos, Anarchie und Verfolgung solch anmutige, intensive, dynamische, letztlich immer lebensbejahende Texte zu schreiben. Selbst „Poem“ ist bei aller spürbarer Bedrohung alles in allem eine kraftvolle Hymne an das Leben.

In der Regel erreicht Selma Merbaum eine andere, leicht überhöhte (apotheotische) Ebene, die nichts von ihren Lebensumständen spüren lässt:

Es sind meine Nächte
durchflochten von Träumen,
die blau sind wie Sehnsuchtsweh.
Ich träume, es fallen von allen Bäumen
Flocken von klingendem Schnee.

(aus „Träume“, 8.11.1941)

Übrigens: Wann habt Ihr zuletzt dem Schnee zugehört? Ich für meinen Teil liebe das Geräusch, ich sehne mich danach.

Aber diese Zeilen von „Träume“ schreibt eine 17jährige, die im November 1941 mindestens am Rande, fast schon inmitten der Hölle lebt. Sicher, es ist kein fröhlicher Text, aber er besitzt Anmut, Poesie und Kraft, was m.E. unbedingt positive Eigenschaften sind.

Wohl nicht gerade im November 1941, aber generell galt Selma Merbaum in diesen Jahren als äußerst quirrlig-fröhlicher „Backfisch“:

„Sie tanzte sehr gern [und] war die Ausgelassenste in der zionistischen Gruppe. Sie wollte jeden Moment ausleben“

sagte ihre den Holocaust überlebende Freundin Else Keren über Selma Merbaum.

Es gibt verschiedene Arten, auf Bedrohung zu reagieren. Angst, Rückzug, Paralyse, Flucht sind hochverständliche Reaktionen. Über Flucht wurde sicher in der Jugendgruppe von Selma Merbaum diskutiert. Ihr Freund Lejser versuchte nach Palästina zu fliehen.

Selma Merbaum wird all diese Gedanken gefühlt und gekannt haben – aber sie entschied sich, wie anhand des obigen Zitates und durch ihre Texte sichtbar, für den Weg des „Chasak“ – hebräisch für „Sei stark“. Ihre Jugendgruppe wird ihr (vermeintliche) Sicherheit und Identität gegeben haben. Die Tatsache, dass sie sich zurecht als Dichterin fühlen konnte, stolz sein konnte auf die zu Papier gebrachten Zeilen, wird ihr Selbstgefühl gestärkt haben. Und ihre Jugend wird ihr – trotzdem sie in den Straßen ihrer Heimatstadt Czernowitz widerliche Szenen von Verfolgung und Anarchie gesehen und erlebt hat – die Möglichkeit gegeben haben, sich auf sich selbst und ihr Leben zu konzentrieren. Und, nach dem ich lange nicht begreifen konnte, woher sie die Kraft nahm, glaube ich es jetzt zu verstehen: Wenn das eigene Leben bedroht ist, spürt man dessen Wert umso mehr.

Das werden viele ernsthaft Erkrankte bestätigen – und die Abkehr vom vorherigen Leben von Krebspatienten etc. ist allgemein bekannt. Ehemalige Burn-Out-Patienten wenden oftmals ihren alten Strukturen den Rücken zu, sie bauen  sich ein neues Leben auf, in dem sie mehr in Kontakt mit sich selbst stehen. Für viele Menschen bedarf es der Krise, um zu begreifen, was eigentlich wichtig ist.

Meine These also lautet, dass wir zwar alle wissen, dass das Leben endlich ist und deshalb Strategien entwickeln um es auszukosten – aber erst wenn es konkret bedroht wird, erkennen die meisten von uns, dass SchnellerHöherWeiter ein Fehlschluss ist, weil wir uns selbst auf diese Weise nicht nahe kommen, sondern eher von uns selbst und unserer Endlichkeit ablenken.

Ich wünschte mir, dass es für mehr Menschen eine Abkürzung gäbe, dass es nicht der Krise bedarf, um das SchnellerHöherWeiter loslassen zu können.

 

Aber zurück zu „Poem“. Selma Merbaum schrieb das Werk im Jahre 1941, vor rund 75 Jahren, exakt in dem Moment, als die Rumänen gemeinsam mit der deutschen SS in ihrer Heimatstadt, Czernowitz, einfielen. Ich finde den Text trotz seines Alters äußerst aktuell, bedrückend aktuell: Selma Merbaum und „Poem“ stehen für Toleranz, die eigene Freiheit, die Freiheit des Anderen sowie darüber hinausweisend für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Im Sinne dieses Beitrags – was nicht bedroht ist, wird nicht ausreichend geschätzt, was nicht bedroht ist, ist auch nicht so viel wert: Unsere funktionierende Demokratie, unser aus den Trümmern dunkelster deutscher Geschichte hervorgegangener vorbildlicher Rechtsstaat, unsere historisch gesehen einmalige Freiheit sind vielen so selbstverständlich und anders gar nicht vorstellbar, dass allzuleicht übersehen wird, dass diese Werte davon leben, stets hochgehalten und aktiv verteidigt zu werden.

Selma Merbaums Stimme und Werk sind viel wichtiger, viel viel wichtiger, als ich beim Komponieren dachte.

Marc Pendzich.

 


Kurz-Biografie Selma Merbaum:

https://de.wikipedia.org/wiki/Selma_Meerbaum-Eisinger

 

Danny Merz‘ Website:

www.sollsuchstelle.de

 

Christian Kalnbach arbeitet als Fotograf und entdeckt gerade mit verschiedenen Projekten den Filmemacher in sich:

https://www.youtube.com/channel/UCFhJZYJaRkbmlsibQF_-XsQ
ckalnbach [at] t-online.de

 

Quelle Zitat „Sie tanzte sehr gern“:

Serke, Jürgen (2005): Selma Meerbaum-Eisinger. Ich bin in Sehnsucht eingehüllt. Gedichte. Hoffmann und Campe, S. 109.

 

mehr unter: www.lebelieberlangsam.de
und speziell zu Selma Merbaum:
https://lebelieberlangsam.wordpress.com/2017/09/14/selma-merbaum-und-die-kostbarkeit-des-lebens/