Permuted Identity – ein Werkstattbericht

Backcover des Albums „Permuted Identity“
  • 2012 
    • Konzeption des Modern-Dance-Theaterstücks zusammen mit einem Choreographen
    • Grundkonzept Musik, Komposition, div. Soundscape-Aufnahmen in Hamburg, Arrangements, Rohmix
  • 2013 – 2016
    • Weitere Bühnenkonzeption
    • Suche nach Mitstreiter*innen
    • Unendliche Bürokratie bzw. „Kampf um Förderung und Aufführung“
    • Final Mix der ca. 42-minütigen Aufnahme
  • 2019 Frühjahr
    • Begegnung mit der Nachtigall in sternenklarer Nacht bei Null Grad (vgl. numb (Remix))
  • 2019 Herbst
    • Eigen-Remix der im ursprünglichen Tanztheaterstück-Konzept bewusst identisch wiederholten Musikteile (was für ein Musikalbum nicht gut funktioniert) mit dem Grundgedanken: „Mal sehen, was diese Musik fünf Jahre später mit mir macht.“
    • Entwicklung des Covers unter Verwendung eines 2015 von Manuel Geiger erstellten Portraitfotos von Marc Pendzich
  • 2020 Frühjahr
    • Mastering durch Flo Siller Mastering
  • 2021, Februar/März
    • 8D-Mix für Kopfhörer als Permuted Identity 8D – For Headphones Only
  • 2021, 9. April
    • Release Date
  • 2021, 7. Mai
    • Release Date Permuted Identity 8D – For Headphones Only

pdf-Download des Werkstattberichtes

Ein Werkstattbericht.

Am Anfang stand eine Konzeptidee: Für ein Modern-Dance-Tanztheaterstück sollten sich die musikalische und die choreographische Ebene gegeneinander verschieben. Nach Musikwerk 1 und Choreographie 1, so die Idee, sollte Musikwerk 2 unter identischer Wiederholung von Choreographie 1 erklingen, wodurch, weil sich nun die verschiedenen Gefühlsinhalte der Ebenen reiben, Spannung entsteht – oder auch atmosphärische, ambivalente „Zwischentöne“. Vier fünfminütige Musikwerke treten sozusagen gegen vier ebenso lange Choreographien an, mit der Reihenfolge:

C1       C1       C2       C2       C3       C3       C4       C4

M1      M2      M2      M3      M3      M4      M4      M1

Idee war, vier verschiedene Stimmungen bzw. psychische Zustände zu kontrastieren und so mal emotionale Ein- und mal ambivalente Mehrdeutigkeit zum Tragen kommen zu lassen.

Eine Person bewegt sich zu Fuß, U-Bahn-fahrend, mit Inlineskates, per Fahrrad im Alten Elbtunnel sowie in einem Auto sitzend durch Hamburg und durchlebt dabei – hin- und hergerissen, schwankend – diese vier „Seelenzustände“ (zzgl. der Ambivalenz-Zustände).

  • switchback
    („Achterbahn der Gefühle“; oder auch: „der tägliche Kampf mit sich selbst“)
  • unique
    („Mir kann niemand irgendetwas“; „vorpreschend, absolut einzigartig aufs Leben zugehend“)
  • numb
    („betäubt, entfremdet“; „verloren, ohne Identität, zurückgehalten, schmerzhaft“)
  • serendipity
    („glücklicher Zufall – bei sich sein“; „Gelassenheit, sich annehmend“)

Daraus ergibt sich für die Musik folgendes „Tracklisting“:

switchback — unique — unique — numb — numb — serendipity — serendipity — switchback


Außerdem wollte ich, dass sich die*der Zuschauer*in/Zuhörer*in mit der Person – die durch eine Handvoll Tänzer*innen auf der Bühne repräsentiert werden sollte –, identifizieren können sollte. Deshalb wurde der Soundscape (Klanglandschaft) aus Sicht, d.h. aus der Hör-Perspektive dieser Person komponiert: In den Soundscapes bewegt sich das Mikrophon (d.h. gefühlt wir) dynamisch im Raum.

Damit war das Grundkonzept umrissen, das ich im Jahre 2012, etwas weniger ausgereift als hier dargestellt, bei einem ersten Treffen mit einem jungen Choreographen samt dem Projekttitel Permuted Identity vorschlug, worauf mein künftiger Mitstreiter zu meiner Freude sofort einging.

Komposition.

Der Suiten-hafte Charakter mit der dramaturgisch-musikalisch-tänzerischen Erfordernis, auf kurze Musikparts zu setzen, die geeignet sind miteinander zu kontrastieren, begünstigte den Blick ins eigene Archiv, um entsprechende bislang nicht verwendete Parts und Bits zu finden, die ich kombinieren könnte: In meiner Jugend und Jungerwachsenenzeit habe ich sehr viel musikalisches Material komponiert, das nie veröffentlicht wurde und mir nun als musikalischer Steinbruch zur Verfügung steht.

Während die allermeisten Werkteile für switchback und für das komplexe numb komplett neu entstanden, basiert das temporeiche „Mir gehört die Welt“-unique in erster Linie auf Musik, die ich in meiner ‚unverletzlichen‘ Zeit, also in meiner Jugend geschrieben habe. Ich finde diese Musik vornehmlich auf aus meiner Abiturzeit stammenden Archivbändern. Damals, vor den schriftlichen Abi-Klausur-Wochen hatte ich einen Deal mit mir selbst geschlossen: Lernen, lernen, lernen – mit einer erlaubten Ausnahme: Komponieren. Selten habe ich mehr komponiert als in diesen Wochen. Eine Melodie griffiger als die andere. Alles schnelles Zeug. Unbefangen. Naiv. Gerade heraus. Melodiös. Keine Songs, eher groovige, treibende, instrumentale Tracks. Wie gemacht für unique. Hier natürlich neu miteinander kombiniert und in einen anderen Zusammenhang gestellt.  
Besonders stolz bin ich, immer noch, ja, dauerhaft, seit dem ich 16 Jahre alt gewesen bin, auf diesen kleinen (aus heutiger Sicht interessanterweise KLF-artigen) Einwurf, der in unique jeweils ab Minute 3:49 und 4:47 zu hören ist. Den habe ich innerhalb eines umfangreichen Musikstückes Programmierzeile für Programmierzeile, Zahlenwert für Zahlenwert, Komma für Komma, im Verlaufe eines ganzen Wochenendes mit einem Basic-Programm für die drei Klangchips des C64 (Commodore 64) geschrieben – und wusste seither, dass ich dieses Element auf jeden Fall noch einmal irgendwann einbringen würde: Voilà!

Als Komponist verändert sich die Art zu komponieren mit den Jahren, mit der Lebenserfahrung, mit zunehmender Reife – und sicher auch mit den kompositorischen Fähigkeiten und der Entwicklung einer sich eingravierenden musikalischen Handschrift. Über die Cardigans habe ich mal gelesen, dass die ersten Alben, die definierten, was die Cardigans sind, fast ausschließlich auf Songs basieren, die der Hauptsongwriter Jahre früher, in seiner Jugend geschrieben hat – womit die Cardigans ein Problem hatten, als diese Quelle ausgeschöpft war. Nun, angesichts der Gerade-heraus-„Verspieltheit“ dieser Songs kann ich mir gut vorstellen, dass diese Stücke äußerst jugendlichen Ursprungs sind. Umgekehrt möchte ich kurz an das späte Schaffen von Beethoven, Bartók, Mahler & Co erinnern, Werke, die als „Schwanengesang“ an Komplexität und/oder Intensität über die Werke früherer Schaffensperioden deutlich hinausgehen.

Auch der zweite Teil von serendipity entstand bereits als ich ca. 17 Jahre alt war. Er klang übrigens seinerzeit gar nicht so viel anders als jetzt bei Permuted Identity, weil das damalige Arrangement größtenteils auf einem vorprogrammierten CasioCT-470-Keyboard-Arrangement basierte, dass ich jetzt für serendipity weitgehend nachgebaut habe. Und die langen, verhallten Töne waren damals aufgrund eines „Programmierfehlers“ des Keyboards möglich, der sozusagen „ewigen“ Hall zuließ.

wiedergefunden im Netz: MT-21, ca. 1984

In den 1980er Jahren war es für mich meistens interessanter mit den beschränkten Keyboards das zu machen, wofür sie nicht gedacht waren. Mein allererstes Keyboard von Casio (ca. 1984, mühsamst vom Taschengeld erworben für gefühlte 250 DM und als umso wertvoller empfunden, 8 Klangfarben, 4 Rhythmen, halbe Tasten, polyphon, 2 ½ Oktaven, Mono, wohl eher keine Anschlagsdynamik) wurde erst so richtig spannend, wenn man die Lautstärke händisch auf den leisestmöglichen Punkt eingestellt hatte und dieses leise Signal dann maximal verstärkte. Was da an Geblubber, WahWah und sonstigen lo-fi-Artefakten möglich war – das geht mit den größten Maschinen heute auch nicht besser. Nur mit dem Unterschied, dass dieses reichlich einfach gestrickte Gerät so gar nicht dafür vorgesehen war.

Der Anfang aus serendipity hingegen wurde extra für Permuted Identity komponiert – auch wenn der „Poem“ aus dem 2016er Selma[-Merbaum]-Album ebenfalls auf diesem Werkteil fußt. Der Werkteil passte bei Selma derart vollkommen, dass ich – der ich i.d.R. Musik nur einmal verwende – hier gerne eine Ausnahme machte. Die Schwerelosigkeit, der minimal-Ansatz, das sich hochschraubende Klaviermotiv, die kontrastierenden, langsam absteigenden sirrenden Streichersounds – ja, so etwas würde ich mir gern täglich einfallen lassen. Aber Schwerelosigkeit zu erzeugen ist nun einmal eine der schwersten zu erreichenden Dinge auf diesem Planeten…

Geräusche.

Um das Kassettenrückspul- und Kassetten-Taste-Geräusch zu erzeugen, fragte ich zunächst im Freundes- und Bekanntenkreis herum, wer überhaupt noch über ein solches Gerät verfügt.

Jede*r hat wohl emotionale Verbindungen zu Geräuschen, die sie*er aus ihrer*seiner Kindheit kennt und besonders stark mit einer Sache verbindet.           
Wenn ich an Kassettenrekorder denke, höre ich innerlich sofort die Geräusche des Grundig CR 455, dessen Tasten-Geräusche, Design und Haptik ich liebe… Und mit dem ich unendliche Stunden bei meinen Großeltern verbracht habe – Schlümpfe-Welthits, Udo Jürgens mit der männlichen Deutschen Fußballnationalmannschaft („Wer hat schon solche Beine, wie meine, wie meine“), Boney M.s unglaublich gut klingendes „Ma Baker“, Rudi Carrells „Goethe war gut“ und schließlich Nena, Nena, Nena (mit 12 darf man das!) – was will man mehr?

Und welches altgediente Gerät zauberte einer meiner besten Freunde im Jahre 2012 aus seiner Schublade? Tatsächlich, einen CR 455. Er funktionierte zwar nicht mehr richtig, aber das Wichtigste war quasi fabrikneu: der Sound der Tasten. Den nahm ich akribisch auf. Und mit einem weiteren Kassettenrekorder unternahm ich Versuche, unique rückwärts mit quäkendem Geräusch abzuspielen und dabei ebendieses Quäken aufzunehmen. Das funktionierte zwar durchaus leidlich: Doch am Ende habe ich den Rückspielsound unter Verwendung der entsprechend manipulierten unique-Aufnahme digital erzeugt und dann mit den Tasten des CR 455 montiert.

Das sind so Sachen, die mir seit jeher Freude machen – und ich muss beim Niederschreiben über mich selber grinsen, beschäftige ich mich dieser Tage doch zu einem guten Teil meiner Zeit mit Klimakrise und Massenaussterben (vgl. handbuch-klimakrise.de/) – Themen, mit denen ich zwar umgehen kann, denen aber doch ein ganz anderer emotionaler Impact innewohnt als die Selbstvergessenheit, mit der ich früher über Geräusche von Tasten sinniert habe.

Apropos „Geräusche“, kommen wir zu den…

Soundscapes. (Klanglandschaften.)

Hier erscheint mir der spannendste Faktor der Zufall zu sein, Dinge, die man vor das Mikrophon bekommt, mit denen man nicht rechnen konnte. Sicher, ich bin mit meinen Inlinern und dem zwischen meine Knie gehaltenen Mikrophon durch unsere Straße gedüst, habe bewusst das Bremsen aufgenommen und auf einen ausgefeilten Stereosound geachtet. Dass ich aber einem riesigen Schaufellader begegnen würde, der zu alledem auch noch zum perfekten Zeitpunkt irgendwo gegenfährt und auf diese Weise eine ganze Kaskade von spannenden Geräuschen erzeugt, konnte ich vorher nicht wissen.

Mit Interesse entnehme ich meinen eigenen Notizen dieser Zeit, dass mir für den Autostau ein Dopplereffekt eines Krankenwagens vorschwebte… Und der Autostau sollte entgegen der Lebenserfahrung komplett entspannt rüberkommen – akustisch markiert durch Limonade-Dosen öffnen, mit Schokopapier knistern, Kaffee aus der Thermoskanne einschütten… rückblickend wäre das wohl zeitlich zu lang geworden…

Mein Unterstützer, d.h. der Fahrer des aufgenommenen Autos, hatte am Aufnahmetag eine Polyester-Winterjacke an, die bei jedem tieferen Atemzug – jawohl, schon beim Atmen! – akustisch beeindruckend laute Geräusche verursachte. Ein Mikrophon bekommt alles mit, alles das, was wir normalerweise für uns akustisch wegfiltern im Alltag. In der Konsequenz hatte mein Unterstützer vollkommen bewegungslos und mit der Anweisung nur flach zu atmen, quasi in Trance, neben mir zu sitzen, während ich Blinker, Scheibenwischer, das Innenraum-Regengeräusch und die „Innenraum-Hupe“ aufzeichnete… Danke!

Ein paar Geräusche/Soundscapes auf Permuted Identity sind bereits jetzt, bei Veröffentlichung, historisch geworden:

  • Der Paternoster im Bezirksamt Eimsbüttel ist nach meinem Wissensstand nicht mehr öffentlich zugänglich.
  • Und die Tunnelröhren im Alten Elbtunnel werden derzeit saniert, was zu meinem echten Bedauern zur Folge hat, dass das markante Gully-Geräusch (numb, Min 0:24, 0:31, 0:40) auf immer verklungen ist. Ob diese Kommunikationsanlage (numb, ab Min 0:19) mit dem Warngeräusch unten bei den Nord-Aufzügen die Sanierung „überlebt“ hat, ist mir unbekannt – auf jeden Fall habe ich es bei jüngeren Tunneldurchfahrten nicht mehr gehört. Historisch sind auch die Autogeräusche im Alten Elbtunnel: Seit der Freigabe der ersten sanierten Tunnelröhre sind Pkw dort nicht mehr zugelassen.
  • Es war mir übrigens ein besonderes Vergnügen, akustisch mit dem o.g. Paternoster in den Alten Elbtunnel einzufahren…


Und schließlich, serendipity, da erklingt dieser signifikante Ruf: „Waschnyminneeh“!…

Wer Soundscapes aufnimmt, darf sich nicht darum scheren, was Andere von einem denken… Da läuft man dann mit dem zwischen die Knie gehaltenen Mikro, immer darauf achtend, nicht zu stolpern, in einem vorher genau überlegten Tempo, präzise wie ein Metronom und zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt, den man zuvor mehrfach ausgetestet hat, die (Roll-)Treppen des U- und S-Bahnhofs Landungsbrücken (der übrigens auch gerade einer – sicher auch akustischen – Generalüberholung unterzogen wird) hoch, um dann weder zu früh noch zu spät auf der U-Bahn-Plattform zu sein, um punktgenau, d.h. möglichst spät in die U3 zu springen, um sich dann sofort umzudrehen im Waggon, um die zufallende Tür akustisch gut einzufangen. Bei einem dieser Versuche sprangen zwei andere Männer mittleren Alters noch hinter mir her, der zweite verfing sich in der zufallenden Tür und rief das markante „Waschnyminneeh“, dessen Sprache und Wortsinn ich bis heute nicht entschlüsseln konnte, mir aber nicht denken kann, dass es etwas anderes als „Sch…“ bedeuten könnte. Die beiden Männer zerrten unter vereinten Kräften die Tür wieder auf, die nachfolgend unter Hochdruck endlich ganz – und laut – zufiel. Nun, die Beiden wirkten so, als ob sie das öfter machten – aber, jetzt beim Schreiben, erkenne ich (erstmals), dass ich wohl meinen Anteil an dieser Szene hatte. War nicht so klug. Und spannend, das man manche Dinge erst Jahre später begreift.

Damals hingegen konnte ich mein Glück nicht fassen angesichts dieser markanten Akustik-Szene. Naiv ist der Komponist. Nun, Schwamm drüber, auf jeden Fall habe ich diese Szene zum Ausgangspunkt des Soundscapes zu switchback und damit zum Ein- und Ausstiegspunkt des gesamten Albums Permuted Identity machen können. Den Zufall zu zulassen, ja, im Grunde: serendipity! – so lautet hier, zusammengefasst und frei nach Hape Kerkeling, die heutige „Erkenntnis des Tages“.

Umsetzung als Modern-Dance-Theaterstück.

2013 waren Komposition, Arrangement, Rohmix und Soundscape quasi fertig, das Modern-Dance-Theaterstück-Konzept niedergeschrieben, die Bühnenidee meines Mitstreiters stand, die Choreographie hatte er offensichtlich mindestens zum Teil im Kopf, potenzielle Tänzer*innen waren auch schon gefunden – und damit waren wir beim schwierigeren Teil des Projekts angelangt: Bei der konkreten Umsetzung, d.h. nun ging es um die Finanzierung. Sogar den so wichtigen „Spielstättennachweis“ hatten wir bereits in der Tasche, in Hamburg und an unserem Wunsch-Spielort inkl. möglicher Spieltermine – es hätte dort wahrscheinlich sogar statt mit Stereo mit Surround 5.1-Sound geklappt.

So weit so prima, aber als es dann an eine finanzielle Förderung durch die Stadt ging – und eine solche benötigt man in Deutschland definitiv, weil man als freie*r Komponist*in/Choreograph*in als Veranstalter*in auftritt und somit das Theater tatsächlich „nur“ den Rahmen für das Gastspiel stellt – haben wir uns monatelang, jahrelang, unter Investition von unglaublich viel Energie, Nerven und Zeit sämtliche Zähne daran ausgebissen. Der zwischenzeitliche Umzug meines Mitstreiters nach Süddeutschland machte die Sache auch nicht leichter… Sagen wir mal, ich habe Deutschlands Nicht-Förderstrukturen für nicht etablierte Freie-Tanzszene-Projekte kennengelernt und kann seither meinen Studierenden der Systematischen Musikwissenschaft in einem Seminar wie „Musik und Wirtschaft“ umfassend über Hamburgs/Deutschlands sog. Förderstrukturen berichten: Das Vorausinvestment ist grotesk hoch, die Erfordernis an Vorwissen und Know-how immens, man hat i.d.R. grundsätzlich und in relevantem Maß eigenes Geld mitzubringen, was viele innovative Ideen von vorneherein plattmacht… Die Chance, eine Förderung zu ergattern steht in einem diametralen Verhältnis zum Aufwand… – Wer von Euch einen 9-to-5-Job hat und ab und zu mal mit dem Gedanken spielt, auf eine solche Weise freier zu arbeiten… das muss man wollen. Ich bin seit Jahrzehnten freischaffend und durchaus hart im Nehmen. Aber das tue ich mir definitiv nicht noch mal an. Nach einer weiteren Absage zu einem in wochenlanger Arbeit vorbereiteten Förderungsantrag, diesmal von der Hamburger Kulturbehörde, haben wir dann, ja man muss sagen: entkräftet aufgegeben, unsere Wunden geleckt und uns gegenseitig aus der Verantwortung für dieses Projekt entlassen.     
Es ist so, dass ich mich seinerzeit nicht selten über meinen Arbeitspartner geärgert habe – auch weil ich oft das Gefühl hatte, mehr als er investiert zu haben und abhängiger als er zu sein – zumal ja das Musikwerk bereits fertiggestellt war und die Choreographie – logischerweise – nicht. Jetzt, mit Abstand, bin ich vor allem stolz darauf, dass wir uns solange gemeinsam gegen diesen massiven Gegenwind, der eigentlich eher ein Vakuum staatlichen Behördenstumpfsinns gewesen ist, gestellt haben. Danke, lieber Mitstreiter!

Musikalbum „Permuted Identity“.

Selbstredend wollte ich die Musik von Permuted Identity, die so viel Input enthält, dennoch und losgelöst vom Dance-Projekt als Musikalbum veröffentlichen. Klar war aber auch, dass eine identische Wiederholung der vier Parts auf einem Audio-Musikalbum wenig Sinn machte. Man hätte die Wiederholungen theoretisch schlicht weglassen können. Doch eine nicht-identische Wiederholung schien mir reizvoll, zumal innerhalb der fünf Minuten der vier Parts selbst so gut wie keine Wiederholungen passieren (weil ja klar war, dass die*der Zuschauer*in das alles noch einmal zu hören bekommen würde), sodass die einmalige, nicht-identische Wiederholung auch auf einem Audio-Musikalbum dramaturgisch durchaus sinnfällig sein kann – damit nicht ständig gänzlich neue musikalische Informationen auf die*den Hörer*in einstürzen.


Tracklisting analog zum Dance-Theater-Konzept:

switchback — unique — unique (remix) — numb — numb (remix) — serendipity — serendipity (remix) — switchback (remix)


Einige Zeit lang spielte ich mit dem Gedanken, von außen eine*n Remixer*in zu beauftragen oder im Internet einen entsprechenden Wettbewerb auszuschreiben. Meine Umgebung ließ jedoch durchblicken, dass ich den Workload für eine*n Remixer*in stark unterschätze und deshalb pro Track wohl jeweils eine*n andere*n Remixer*in ranlassen müsste. Das wäre jedoch mit einem erheblichen logistischen Aufwand verbunden gewesen – und inwieweit das Ergebnis von vier unterschiedlichen Remixer*innen ausreichend ästhetisch einheitlich gewesen wäre, war auch nicht absehbar. Schließlich kam der Gedanke und Wunsch auf, selbst, auf Basis der Stereo-Summenspur und mit (für mich neuen) Remix-Tools, nochmals, mit etwa fünf Jahren Abstand, an die eigene Musikaufnahme ranzugehen und mich einer neuen und ganz anderen Herausforderung zu stellen: „Was macht diese Musik mit mir fünf Jahre später?“


Eine ganze Menge, wie das Ergebnis zeigt, so denke ich. Besonders numb mit dem intensiven Solopart der nur im Remix vorkommenden Nachtigall (ab Min 2:22, s.u.) und serendipity mit der nur im Remix erscheinenden, lang gezogenen Vocal-Linie gegen Ende des Einleitungsparts (ab Min 1:15) haben ganz neue Aspekte gewonnen. unique wirkt m.E. etwas grooviger und härter als im Original. Und der remixte Schlusspart von switchback, der ja gleichzeitig auch höhepunktartig das Ende des Albums einleitet, geht – nach meinem Gefühl – in Sachen Intensität über die am Anfang des Albums erklingende Originalversion nochmals hinaus.

Die Nachtigall.

Im angeblich frühlingshaften Wonnemonat Mai waren wir 2018 auf ein paar Tage in der Nähe von Hitzacker an der Elbe – und nächtigten in einem ehemaligen Bauwagen, der zum Tiny House umgebaut worden war. Ein spannendes Experiment – doch was die erste Übernachtung maßgeblich charakterisierte, waren klirrendkalte Null Grad Celsius, die man mit einem rußigen Mini-Holzofen in einem nicht wärmeisolierten Bauwagen nicht wirklich abmildern konnte. Markant waren auch der klare, sternenübersäte Himmel sowie: die Nachtigall, die die ganze Nacht – jawohl, die ganze Nacht, unweit unseres auch akustisch nicht isolierten Domizils hindurch laut und wunderschön-eindringlich sang. An Schlaf war nicht zu denken – es störte mich auch nicht, denn das Unterhaltungsprogramm stimmte. Lange rang ich mit mir, fröstelnd unter meiner Decke, aber so gegen 2 Uhr morgens bin ich dann doch, schlotternd vor Kälte, in meine Klamotten gestiegen, platzierte draußen in tiefster Dunkelheit mein Mikrophon und holte selbiges nach einer Stunde ebenso zitternd wieder herein. In dieser Stunde hat sie, die Nachtigall, ihr Bestes gegeben und mir einen umfassenden, flammenden Vortrag über das gehalten, worauf es im Leben wirklich ankommt.

Nach etwa dreißig Minuten hört man auf der originalen Nachtigall-Aufnahme (nicht auf dem Album!), wie sich in die nur vom Nachtigallengesang unterbrochene Stille der Nacht schier unendlich langsam, aus dem akustischen Nichts kommend, bruchlos und stetig lauter werdend ein tiefenfrequentes, mächtiges Flugzeug nähert, die Nachtigall leiser wird und schließlich verstummt – und wie das Flugzeug sich ebenso langsam wieder entfernt… und die Nachtigall ihren Gesang schließlich etwas weniger enthusiastisch wieder aufnimmt und sich bald darauf zunehmend andere Vögel mehr und mehr in den Soundscape mischen – der Tag naht.           
Ich hatte das Gefühl einem Musikwerk zu lauschen. Konkret dachte ich an Ludwig van Beethovens Sechste: „Ankunft auf dem Lande“ – Gewitter/Donner/Sturm (hier: Flugzeug) und schließlich der erleichterte „Hirtengesang“ nach überstandenem Unwetter – die gleiche Dramaturgie.

Nachtigallen, so habe ich in dieser Nacht gelernt, geben ein paar Kostproben ihres Repertoires und machen dann nachfolgend eine genauso lang andauernde Pause, wohl um zu hören, ob sie eine Antwort erhalten: Ziel der Aktion ist eigentlich „Call & Response“ mit anderen Nachtigallen… und auch das ist auf der Nachtigall-Aufnahme zu hören. Das bedeutet auch, dass das Solo in numb so nicht hätte stattfinden können, weil die „komponierte Nachtigall“ anders als die reale keine Pausen macht.

Das Repertoire von diesem Vogel ist: unglaublich umfangreich. Ich bin tief beeindruckt. Auf der Aufnahme in Permuted Identity bzw. numb (remix) ist nur ein winziger Bruchteil ihres Programms zu hören. Ich komme mir klein vor angesichts dieses Wunders. Demut vor der Natur, das ist es, was wir brauchen. Wer kommt sich nicht unbedeutend vor angesichts des grandiosen Sternenzeltes? Nur, dass wir das nicht sehen im Streulicht der Großstädte. Da kann man schon mal vergessen, wie klein man eigentlich ist…

Als es daran ging, numb zu remixen, dachte ich zunächst keineswegs an die Nachtigall-Aufnahme. Mir war nur klar, dass der Synthesizer, der die Hauptmelodielinie vorträgt, im Remix nicht durch Verfremdung zu bändigen gewesen wäre. Ihn einfach komplett wegzulassen ging auch nicht. Wodurch also ersetzen – ohne das Musikstück zu sehr umzubauen? Plötzlich stand die Idee im Raum, ein Solo einzubringen – aber nicht von einer E-Gitarre oder so, sondern: von der Nachtigall, bei der ich ja in der ersten Minute gewusst hatte, dass ich sie irgendwann in einem meiner Musikwerke unterbringen würde.

Also suchte ich mir die m.E. interessantesten Nachtigall-Parts heraus und komponierte, per Rekombination dieser einzelnen Schnipsel, ein wahrhaftes gitarrenloses E-Gitarren-Solo, bei dem die Nachtigall mir und uns, inmitten des stofflosen Nebels des entfremdet-betäubten numb, einen gepfefferten Vortrag über die Essenz des Lebens hält. Und wenn Sie mich fragen: Wir Menschen kommen in diesem Vortrag nicht gut weg, er hat m.E. auch den Charakter eines Weckrufs, einer Anklage.

Die Tantiemen für diesen Werkteil aber gebühren definitiv der Nachtigall; wenn ich ihr prägnantes Solo höre, bin ich (obwohl ich sonst nicht dazu neige) himmelhochjauchzend und doch zu Tode betrübt, es trifft mich tief, mitten in den Bauch. Jedes Mal.

LebeLieberLangsam.

Marc Pendzich | Permuted Identity 8D – For Headphones Only (8D Audio) [Kopfhörer auf!]

Permuted Identity 8D – For Headphones Only.

Die Chance, ein so effektreiches Werk wie Permuted Identity in 8D für Kopfhörer zu mixen, wollte ich mir, sofort, nachdem ich mitbekommen hatte, dass auf YouTube & Co solche 8D-Mixes mehrheitlich von Chartpopsongs existieren, nicht entgehen lassen.

Im Unterschied zu den dort üblicherweise upgeloadeten Versionen ist meine – und das scheint mir die absolute Ausnahme zu sein – von Hand der Komponistin bzw. des Komponisten. Und es hat mir Freude bereitet, meine Aufnahme noch einmal, nach dem Remix gewissermaßen nochmal zu remixen. Schwierig ist das nicht, es ist letztlich ein einziges, nur wenige Parameter enthaltendes Werkzeug namens „Ambeo Orbit“, das stimmig und ästhetisch eingesetzt werden will.

Albumtitel „Permuted Identity“.

Ohne die zweite Ebene, der Choreographie-Ebene ist das Moment der Permutation natürlich auf dem reinen, nur eine Ebene enthaltenden Musikalbum nicht unmittelbar gegeben.

Interpretiert man den Titel „Permuted Identity“ großzügig als „ständig verändernden Seelenzustand“, dann sind hier die im Album stetig abwechselnden Gefühlszustände, die sich hörbar durch Hamburg fortbewegende Person erlebt, gemeint.

Die Gefühlsinhalte, die mal recht eindeutig, mal höchst ambivalent sind – und die im Zeitraum von rund 40 Minuten stetig der Veränderung unterliegen, dieses stetige

Sich-Selbst-Nicht-Finden, das Nicht-bei-Sich-Sein, nicht-im-Einklang-mit-sich-selbst-sein

in dieser Kaskade von Gefühlen bzw. psychischen Zuständen kann gewissermaßen als eine nicht feststehende, weil sich ständig verändernde, permutierende Identität – d.h. als „Permuted Identity“ – verstanden werden.

Schluss.

Permuted Identity erscheint mir das ideale Album zu sein, um in Covid-19-Zeiten veröffentlicht zu werden. Es ist so anders… Ob man es mag oder auch nicht: Es ist definitiv etwas Neues. Neu ist gut. Ich gehe davon aus, dass das Album polarisiert: Man kann es mögen, man kann es nicht mögen – aber es kann einem nicht egal sein… es will entdeckt werden, was nicht mit einem Mal Hören getan ist… Es braucht Muße und Zeit, um es zu ergründen… Zeit, die Mancher an langen Covid-19-Wochenenden haben wird… Man kann es m.E. oft hören und wird dabei immer wieder auf neue Aspekte stoßen… es ist live für mich nicht umsetzbar, sodass sich die Frage nach Live-Auftritten zu diesem Album nicht stellt, es hat – so nehme ich wenigstens an – keine kommerzielle Perspektive, vielleicht irre ich mich ja, ähnlich wie der IBM-Chef, der einst den Bedarf für Computer bei wenigen Exemplaren sah?… – sodass es zusammengenommen und alles in allem mir als das perfekte, genau jetzt idealerweise zu veröffentlichende Album in dieser reichlich widrigen Zeit erscheint.

Bleibt gesund!

Viel Freude damit!

Marc Pendzich.


pdf-Download des Werkstattberichtes