IN DER WELT – ein Werkstattbericht

  • 1998 Komposition, Arrangements
  • 1999ff. Schaffung des Paul-Boldt-Online-Archives paul-boldt.de
  • 2000 Aufnahme, Produktion und Veröffentlichung der Erstaufnahme – im Eigenverlag (vergriffen)
  • 2008 Paul Boldts Gesamtwerk erscheint wieder als Druck bei Edition Razamba, Herausgeber des zweiten Bandes Auf der Terasse des Café Josty ist Marc Pendzich
  • 2018 „Musikarchäologische“ Rekonstruktion der Erstaufnahme zur Vorbereitung einer Neufassung
  • 2019 Neuproduktion auf Basis der Rekonstruktion unter Hinzunahme zweier weiterer Boldt-Vertonungen
  • 2021 Final Mix von Marc Pendzich und planet-friendly Mastering durch Flo Siller Mastering, Hamburg
  • 25. März 2022 Veröffentlichung bei vadaboéMusic

IN DER WELT. Ein Werkstattbericht. [pdf]

Ein Überblick.

Über den Dichter des deutschen Expressionismus Paul Boldt (1885-1921) ist heute nur noch wenig in Erfahrung zu bringen: nicht einmal ein Foto existiert von ihm. Zeit, sich auf eine musikalische Spurensuche zu machen, und so erschuf der Komponist Marc Pendzich bereits 1998 ein tiefgründiges, lebensintensives, sehnsüchtiges Musik-Portrait von Paul Boldt, das nun mit dieser Aufnahme erstmals einem größeren Publikum zugänglich ist. Pendzich entführt uns in die expressionistische Szene des großstädtischen Berlins der frühen 1910er Jahre: Boldt lässt sein „Gesicht auf Sterne fallen“ und schwelgt in Wortbildern vom „großen abendroten Sonnenball“ und Liebesnächten „voller Lichtgefühl“. Er stolpert ruhelos und einsam, den Menschen entrückt, durch das Regen-benetzte Berlin, trifft nachts, in den einschlägigen Teilen des Tiergartens, Frauen wie „Bella“ und „Betty“, verbindet auf einzigartige Weise erotische Motive mit Naturlyrik und zeichnet sein eigenes Leben in den dramatisch-schillernden Farben des Expressionismus: Paul Boldt – ein flirrend leuchtender Stern, der nach seinem kurzen Berliner Höhenflug psychisch verglühte – in der Hölle des ersten Weltkrieges.          


Ein Werkstattbericht.

IN DER WELT bin ich bereits seit 1995. Meine Freundin zeigte mir zwei expressionistische Gedichte, die ich 23-Jähriger gleichermaßen ansprechend und unverständlich fand: „In der Welt“ und „Das Wiedersehen“. Die Anziehungskraft war direkt da – aber dabei blieb es zunächst.

Das Ende der erwähnten Beziehung brachte eine eher düstere Zeit, die sich jedoch auf kreativer Ebene als äußerst fruchtbar erwies. In dieser Phase ließ ich meine bisherigen meist instrumentalen Einzelkompositionen hinter mir und wandte mich meinem ersten umfangreichen Werk zu: Borchert – ein 35-minütiges Werk über Wolfgang Borcherts Gedichtzyklus „Laterne, Nacht und Sterne“, das bald nach seiner Industrie-fernen CD-Veröffentlichung einige Aufmerksamkeit erfuhr. 1999 wurde es sogar mit 16-köpfigem Orchester live aufgeführt. Ein für mich überraschender und daher auch berauschender Einstandserfolg. Sodann lautete die Frage: Was soll auf Borchert folgen? Ich begab ich mich in die Großen Bleichen, dem damaligen Sitz der Zentralbibliothek der Hamburger Bücherhallen und wühlte mich, angeregt durch die Inspiration, die mir Wolfgang Borchert mit seinem Gedichtband „Laterne, Nacht und Sterne“ zuteil hatte werden lassen, durch das Regal „Lyrik des 20. Jahrhunderts“. Dort stieß ich zufällig auf die längst vergriffene einzige Gesamtausgabe des Ouevres von Paul Boldt aus dem Jahre 1979 – und nahm sie mit. Besagte Faszination war sofort wieder da – und anders als drei Jahre zuvor meinte ich nun zu verstehen, was Paul Boldt mit alledem ausdrücken wollte… Oder vielmehr begriff ich für mich, dass man (auch als Hörer*in des Albums!) nicht jede Zeile bis ins Letzte analysieren können muss, um das transportierte Gefühl zu erfassen. Und so kreierte ich spontan eine intensive Melodielinie samt merkwürdigen Akkorden zu Paul Boldts Zeilen von „In der Welt“. Das klang vollkommen anders, als alles, was ich bis dahin komponiert hatte. Schlüssel zum Gesamtwerk IN DER WELT sind die übermäßigen Akkorde (also bspw. nicht C-Dur „c-e-g“, sondern „c-e-gis“), die für mich persönlich das Expressionistische, Überspannte, Schillernde, Irrationale von Boldts Lyrik in die Musik tragen.

Tatsächlich verwende ich unbewusst/intuitiv/automatisch für jede Autorin, jeden Autor, deren*dessen Texte vor mir auf dem Klavier liegen, andere Akkorde bzw. Akkordfolgen. Mit dem Ergebnis, dass auch später geschriebene Boldt-Musikwerke eben wie Boldt-Lieder klingen. Das 2001 komponierte „Impression du soir“ (landete auf der Erstveröffentlichung von Nachtgesang als Bonus-Track, 2002) und das 2016 entstandene „Frauennacht“ legen davon Zeugnis ab. Die melodische Sprache folgt den Akkorden, sodass Selma-Merbaum-Songs anders klingen als May-Ayim-Stücke, die anders klingen als Emily-Dickinson-Werke etc pp.

Bereits die Borchert-Partitur für Singstimme und kleines Orchester layoutete ich mit Steinbergs aus heutiger Sicht reichlich steinzeitartiger Digital-Audio-Workstation „Cubase Score 3“. Nachdem Borchert tatsächlich live uraufgeführt wurde, arrangierte ich IN DER WELT für eine etwas kleinere Besetzung, für „eine Singstimme und Kammerorchester“, gedacht für eine Sängerin des Theater-/Chanson-Fachs und ein Ensemble von zwölf Musiker*innen: Oboe, Marimbaphon + Perkussion, Harfe, Klavier, Violine 1-4, Viola 1+2, Violoncello und Kontrabass. Auch die einkomponierte Stereophonie war für Aufführungen zu berücksichtigen – hier ist sicher der Widerpart zwischen Harfe (links) und Marimbaphon („warm vibes“, rechts) am markantesten – und dieser ist so auch auf der 2022er Aufnahme zu hören.


Partitur von „Nachtgewölbe“, dem einleitenden Part von IN DER WELT – auch als pdf.


Die kammermusikalische Besetzung sorgt dann auch dafür, dass das Werk sehr einheitlich – wie aus einem Guss – klingt. Des Weiteren habe ich der Oboe als dem Soloinstrument des Musikalbums ein kleines Denkmal gesetzt.          
Die Oboe ist seit jeher mein Lieblingsinstrument. In den 1990er Jahren genoss ich während meines Systematische-Musikwissenschaft-Studiums vier Jahre lang Privatunterricht. Ich gab sie – die Oboe – auf, als 1998 unser erstes Kind geboren wurde – c’est la vie! – schlicht, weil das tägliche Üben für mich nicht machbar war, welches jedoch für das Erlernen der Oboe unabdingbar ist, weil man für dieses Instrument einen extrem hohen (Luft-)Druck aufbauen und zu diesem Zweck über eine entsprechende Muskulatur verfügen muss.

Über eine Freundin fand ich eine Sängerin, die Lust hatte, sich der Herausforderung zu stellen, meine Songs und Paul Boldts Texte einzustudieren und eine CD einzusingen. Über Wochen probten wir regelmäßig in unserem Wohnzimmer, während ein Raum weiter gerade ein Kleinstkind von seiner Mutter beschäftigt werden musste… Man kann Vater eines Babys sein, seine Magisterarbeit schreiben, jobben und gleichzeitig eine CD aufnehmen – muss man aber nicht. Ich stand damals mit mir selber im Wettbewerb, jedes Jahr mehr zu schaffen als im Jahr davor. Kann ich nicht weiterempfehlen. Lebelieberlangsam. 
An einem seeligen, Pizza-getränkten Wochenende in Hamburg-Ohlsdorf übernahm ein befreundeter Kommilitone die Reihenhaus-Zwei-Schlafzimmer-IN-DER-WELT-Musikaufnahme mittels des Roland Harddisk-Rekorders VS-1680. Das Aussuchen der Vocal-Spuren sowie der finale Mix, bei dem die Vocals mit dem bereits vorab gemixten Backingback zusammengebracht wurden, erfolgte dann innerhalb von gefühlten drei Stunden… wie überaus schön, so unbefangen einfach zu machen, ohne – aus heutiger Sicht – ernsthaft von irgendetwas auch nur annähernd eine Ahnung zu haben – und doch der Ansicht sein zu können, man habe Bedeutendes geschaffen… Naja, haben wir ja auch, denn IN DER WELT markierte damals für alle Beteiligten einen großen Schritt nach vorne… mit dem Mut der Jugend und learning by doing… Und wenn man bedenkt, dass sich die Sängerin an jenem legendären Aufnahmewochenende das allererste Mal in ihrem Leben vor einem Mikrophon wiedergefunden hat, hat sie das wirklich zutiefst bewundernswert eingesungen. Chapeau! Und wie unglaublich naiv von mir, zu glauben, sie am Aufnahmetag das erste Mal vor ein Mikro stellen zu können.

Nun, heute schwanke ich zwischen Nostalgie und leichtem Gruseln, wenn ich diese Erstaufnahmen von IN DER WELT höre – und allen Anfragen vorbeugend: Nein, ich würde sie freiwillig nicht wiederveröffentlichen. Jedoch finde ich es hochgradig spannend, dass ich im Jahre 1999 von einem Aufnahmeergebnis überzeugt gewesen sein kann und 20 Jahre später in erster Linie sehe, wie weit ich seither gekommen bin. Wie werde ich in weiteren 20 Jahren z.B. über die 2022 veröffentlichte Version von IN DER WELT denken?

Warum ich als Aufnahmeort Ohlsdorf konkret erwähnte? Nun, dort liegt bekanntermaßen Hamburgs Flughafen und so donnerten an jenem Wochenende in einem Rhythmus von etwa 15 Minuten schattenwerfende Großflugzeuge über uns hinweg, was jeweils Arbeitsunterbrechungen erforderlich machte. Darüber hinaus fing unser empfindliches Gesangsmikrophon mehrfach Flugfunksprüche auf – ich kenne mich technisch zu wenig aus, um hierfür eine plausible Erklärung liefern zu können, aber so war es und wir liefen jederzeit Gefahr, dass eine gerade laufende, möglicherweise hervorragende Vocal-Aufnahme durch leise, aber definitiv hörbare Funksprüche unbrauchbar gemacht wurde. Und tatsächlich ist auf diesem 2000er Album an der leisest-möglichen Stelle, nämlich, wenn die*der Sänger*in in Song „In der Welt“ zur Reprise mit den Worten „Mein Ich ist fort“ ansetzt, ein leises Funkspruch-artiges Geräusch zu hören, dass sich jedoch rätselhafterweise derart gut in die Aufnahme einpasst, dass es im Ergebnis niemand außer mir hört. Auch komisch: Ich vermisse es auf der jetzigen Neuaufnahme.

Für das Cover der damaligen CD-Auflage fertigte Anna Thiele-Dohrmann, eine gute Freundin und m.E. hervorragende Malerin, deren kreatives Werk endlich angemessen beachtet gehört, eine Kohlezeichnung an. Anna hatte zuvor schon mittels eines Portraits von Wolfgang Borchert das Cover zu meinem CD-Erstling gestaltet. Die „fallendes Gesicht“ betitelte IN DER WELT-Graphik verkörpert die Schlüsselzeile in Boldts Gedicht „In der Welt“ und macht m.E. auf den ersten Blick ersichtlich, dass dies nicht irgendein Musikalbum, sondern etwas überaus Eigenständiges ist. Daher war für mich jederzeit klar, dass dies das Cover für IN DER WELT ist, egal, in welcher Form es künftig veröffentlicht wird…

Es folgte die Niederschrift der 70-seitigen Partitur und die Industrie-ferne CD-Veröffentlichung mit bedauerlich wenig Echo – der Vertrieb lief über das steinzeitliche Internet auf der murkeligen Website www.marc-pendzich.de – und so blieben weitere Folgen wie z.B. eine erneute Orchester-Uraufführung aus. IN DER WELT versackte.

Ich wendete mich meinem nächsten Werk – nachtgesang – zu.


Vielleicht ist an dieser Stelle ein guter Zeitpunkt, die Schaffensreihenfolge meiner Werke darzulegen, die sich massiv von der Veröffentlichungsreihenfolge unterscheidet:

  • 1996 Borchert – Begegnungen mit dem Gedichtzyklus „Laterne, Nacht und Sterne“ von Wolfgang Borchert für eine Alt-Stimme und kleines Orchester (CD-Erstaufnahme VÖ 1997, UA 1999, live-Aufführungen durch Pollmeier & Imai 2007-2010, Pollmeier & Imai-CD „Borchert – Gedichtelieder um Hamburg“, 2009, Bochert ist derzeit unveröffentlicht)
  • 1998 IN DER WELT – Musik über Gedichte von Paul Boldt für eine Singstimme und Kammerorchester (VÖ der CD-Erstaufnahme 2000, Neuproduktion und Veröffentlichung 2022)
  • 2000 nachtgesang – 9 Stücke über Gedichte von May Ayim für einen Frauenstimme, Oboe, Percussion, Klavier, Violoncello und Kontrabass (CD-Erstaufnahme VÖ 2002, CD als Gruppe nachtgesang 2012, CD als Marc Pendzich feat. Danny Merz 2017)
  • 2002 Tita und Leo – Ferien zwischen den Jahrhunderten – 2002 (Erstaufnahme als Demo für Theaterverlag, UA 2008 in der Hamburger Theaterfabrik, Musikwerk als Neuproduktion als CD 2014 veröffentlicht)

Dann lange nichts: „Wozu ins Leere produzieren?“ lautete die Frage, außerdem: Elternschaft, Promotion, Berufseinstieg als freier Dozent, Musikgutachter, TV-Experte, Autor für Oberstufenhefte, Musikjournalist, dann: live-Aufführungen von Borchert und nachtgesang via „Pollmeier & Imai“ bzw. unter dem Gruppennamen nachtgesang um 2007 bis 2010, dann umfangreicher Neustart mit einem komplett neuen Studio, das ich mir erst einmal zu erarbeiten hatte…       

  • 2011/12 Zero – Back 2 Life (VÖ: 2018)
  • 2011/12 Permuted Identity (VÖ: 2021)
  • 2012        Von neuen Früchten (VÖ: 2023)
  • 2013        1862 – homage to Emily Dickinson (VÖ: 2020)
  • 2014        Selma (Hommage an Selma Merbaum) (VÖ Marc Pendzich feat. Danny Merz: 2016)

… to be continued.


Doch vor dem Album nachtgesang stand noch eine Sache aus: Paul Boldts Werk war seit der vergriffenen Wolfgang-Minaty-Gesamtausgabe von 1979 nicht mehr im Druck erschienen. Ich bekam Wind von einer Restauflage, die ich telefonisch einem Antiquariat abkaufte, um dann die Restexemplare unter Mitstreiter*innen zu verteilen – wer noch eines der Bücher sein eigen nennt, aufgemerkt: Die Exemplare dürften einiges wert sein! E-Books gab es noch nicht, einen Verleger zu suchen erschien mir nicht aussichtsreich – sodass ich im Ergebnis die m.E. vordringlichste Aufgabe selbst übernahm, nämlich, Paul Boldts Werk für die Öffentlichkeit zugänglich zu halten: In der Konsequenz rief ich das bis heute stetig weiterentwickelte digitale Paul-Boldt-Archiv paul-boldt.de ins Leben. Hier sind sämtliche Werke von Paul Boldt inkl. Angaben zu verschiedenen Textvarianten sowie alle auffindbaren biographischen Daten akribisch zusammengetragen. Im Laufe der Jahre kamen noch englisch- bzw. französischsprachige Nachdichtungen des US-Autors und Übersetzers Daniel J. Webster sowie des Germanistik-Professors Eberhard Scheiffele, beide in Japan wirkend, hinzu. Beide traf ich schließlich (einzeln) in Hamburg – und Herr Scheiffele überließ mir bei unserem Treffen einige Dokumente, die er bei seinen erneuten Nachforschungen zu Paul Boldt gefunden hatte. Die Edition Razamba kam 2008 von sich aus auf die Idee, Paul Boldts einzigen Gedichtband Junge Pferde! Junge Pferde! neu zu drucken. Mein Vorschlag, bei dieser Gelegenheit auch die übrigen Gedichte in einem weiteren Band zu versammeln, mündete darin, dass ich für diesen zweiten Band Auf der Terrasse des Café Josty als Herausgeber und Autor des Nachwortes wirkte. Somit ist das Werk von Paul Boldt seit 2009 auch wieder in gedruckter Form komplett verfügbar. (Inzwischen haben sich diverse E-Book-Firmen meines Archives per copy&paste bedient und verticken das gemeinfreie Material. Sollen sie. Je mehr Boldt, desto besser.)

IN DER WELT ist für mich ein typisches zweites Werk – das i.d.R. etwas lyrischer, tiefgründiger ausfällt als das erste Album einer Künstlerin, eines Künstlers – vgl. bspw. Hergest Ridge von Mike Oldfield – ein Werk, das nach meinem Empfinden grob unterschätzt wird, weil es auf seine stille Art viel heller strahlt als das extrovertiertereDebütalbum Tubular Bells. So empfinde ich auch IN DER WELT, das für mich dunkler, komplexer, lebensintensiver und sowohl kantiger als auch gleichzeitig harmonisch-ganzheitlicher geraten ist als Borchert. Es stellt m.E. eine sehr eigenständige Welt dar, es ist, jawohl, singulär – was doch wohl das Beste ist, was man über ein Kunstwerk sagen kann. Ganz unbescheiden: Es gibt nichts auf dem ganzen Planeten, was klingt wie IN DER WELT. Womit ich nicht etwa einen Fall von Größenwahn andeuten will, sondern hervorheben möchte, worin die absolute Faszination für mich besteht Musik zu schöpfen. Kein weltlicher, materieller, luxuriös-massenindustrieller Wohlstands-Gegenstand kann mir so etwas bieten (sodass ich in der logischen Konsequenz lieberlangsam lebe, vgl. lebelieberlangsam.de).

Mir war immer klar, dass ich das Werk zu einem geeigneten Zeitpunkt wieder aufgreifen würde. An der Komposition war meiner Ansicht nach auch nach all den Jahren keine Note zu ändern – aber es bedurfte einer nunmehr professionellen Produktion. Die Frage war: Wie könnte eine neue Veröffentlichung aussehen? Das gerade mal 18:34 Minuten umfassende Ursprungswerk wäre tendenziell für eine eigenständige Album-Veröffentlichung zu kurz. Damals hatte es eine Frau mit hoher Stimme gesungen – wer sollte diesmal die Gesangsparts übernehmen? Mit meinen 1862-Erfahrungen im Rücken lag es für mich nahe, die Texte des männlichen Dichters selbst zu singen – natürlich eine Oktave tiefer. Wie würde sich diese deutliche Veränderung mit den bestehenden Arrangements vertragen? Der Sound des 1999 eingesetzten Roland-Synthesizers JV-880 mit Zusatz-Orchestermodul – letzteres der wohl teuerste kleine Gegenstand, den ich im analogen Zeitalter je gekauft habe – gefiel mir persönlich zwar sehr, jedoch erschien er mir für eine neue, moderne Produktion objektiv zu schlecht zu sein.

Letztlich reifte 2018 die Erkenntnis, dass jener Roland JV-880 nun in die Jahre gekommen war und es nur noch eine Frage der Zeit sein würde, bis er kaputt gehen würde. Also machte ich mich an eine Art „Musikarchäologie“: Ich verband den JV-880 mit meinem Studio und ließ ihn Song für Song und jede (Orchesterarrangement-Stimmen-)Midi-Spur einzeln – jeweils einmal „trocken“, einmal mit Hall und einmal mit den weiteren damals eingesetzten Effekten – ausspielen und nahm das Ganze unter peinlich genauer Etikettierung/Dokumentation auf. Sowohl für Borchert als auch IN DER WELT. Einfach, um mir die Option offen zu halten, die Musikalben auch im Falle des Ablebens des alten Roland-Gerätes mit genau diesen Sounds oder wenigstens mit einigen dieser Sounds neu einspielen und professionell mixen zu können.

Spannend war für mich, dass all die durchaus komplexen Handgriffe, die ich seit etwa 20 Jahren nicht mehr gemacht hatte, nach einer sehr kurzen Einarbeitungszeit allesamt wieder saßen. Interessant auch, dass die bei dieser Steinzeittechnik erforderlichen einst mühsam von mir entwickelten Workarounds/Kniffe/Tricks umstandslos wieder aus den Tiefen des Hinterkopfs nach vorne ins Bewusstsein traten: Ich denke, wir vergessen nur sehr wenig im Laufe der Jahr(zehnt)e vollständig – wir haben oftmals lediglich keinen aktiven Zugriff mehr auf dieses passive Wissen – die Schublade ist zu – und zur Aktivierung bedarf es eines Impulses von Außen…

Im Sommer 2019 nutzte ich eine kreative Phase dazu, IN DER WELT neu zu produzieren. Klar war nunmehr, dass der Charakter der instrumentalen Teile der damaligen Aufnahme erhalten bleiben sollte, nur eben auf höherem klanglichen Niveau. Ich legte also fest, welche Sounds des JV-880-Orchestermoduls auch auf der neuen Aufnahme sein würden – und welche nicht.

Das Klavier stammt auf der Neuaufnahme, wie bei allem, was ich seit 2014 veröffentlicht habe, gewissermaßen von der R&B-Künstlerin Alicia Keys („Fallin‘“, „Girl On Fire“): Hier handelt es sich um eine Soundlibrary („Alicia‘s Keys“), bei der filigran sämtliche denkbaren Klänge/Töne des Flügels der Komponistin Alicia Keys gesamplet wurden – ein warmer, voller und doch ausreichend heller Klaviersound, der für mich keine Wünsche offen lässt.

Die „alte“ Orchestermodul-Oboe hört sich zwar garantiert nicht wie eine wirkliche Oboe an, aber sie klingt in meinen Ohren gut nach was-auch-immer, sie klingt wie IN DER WELT und bringt die gewünschte Intensität auf den Punkt, sodass sie mein Oboensound für dieses Album ist. Und kein gesampleter neuerer Oboen-Library-Sound der Welt hätte hier einen wirklichen Mehrwert gebracht, da sie allesamt auch heute noch als „Dose“ erkennbar sind. Und eine Aufnahme eines realen Instrumentes hätte sich – so meine Einschätzung – auch nicht notwendig besser gemacht – wer weiß, ob wir bei der Aufnahme die von mir so gewünschte Intensität realisieren hätten können? – und finally, möglicherweise hätte sich das akustische Instrument gar nicht harmonisch eingefügt in die betont elektronische Klangumgebung des Albums…

Ähnliches gilt für den JV-880-Sound „Warm Vibes“ (vgl. Beginn „Liebesmorgen“), der zwar nicht wirklich wie ein Marimbaphon klingt, aber für meine Ohren eine lagerfeuerliche Wärme verbreitet, ohne die dieses Album nicht dieses Album wäre. Also: 1:1 übernommen.

Die Percussion in „Tiergarten“ klingt zwar alles andere als natürlich – aber ich konnte mich nicht entscheiden, hier andere Sounds zu verwenden, weil dann das Träumerische, das Charakteristische der Originalaufnahme verloren gegangen wäre – und das ist hier m.E. das Entscheidende. Ein IN DER WELT-Album hat expressionistisch zu klingen und nicht vorderhand handgemacht oder „natürlich“…

Einzelne Violoncello-, Kontrabass- und Pizzikato-Sounds habe ich komplett ersetzt. Aber quasi alle anderen Sounds stammen erneut, wie einst 1999, vom Orchestermodul des JV-880.

Allerdings, und das ist das Entscheidende, habe ich sämtliche „alten“ Sounds mit zusätzlichen neuen Sounds gemischt. Das hat man sich so vorzustellen, dass z.B. der „alte“ Harfen-Sound „normal“ abgespielt wird. Parallel dazu erklingt jedoch gleichzeitig und an der identischen Stelle des akustischen Raums relativ leise hinzugefügt zusätzlich ein „modernerer“ Harfen-Sound. Dieser jedoch ist „entkernt“, soll heißen, alles ist weggefiltert außer den sehr hohen und den ganz tiefen Frequenzen, sodass im Ergebnis der „alte“ Sound seinen Charakter behält, aber im Bass voluminöser und aufgrund der Hochfrequenzen heller, lebendiger sowie „aufregender“ klingt: Man hört diese beiden gemischten Instrumente als ein Instrument. Der Gesamtcharakter des „alten“ Sounds bleibt erhalten, ist aber deutlich aufgewertet.

Durch diese Workarounds wurde aus einer Musikaufnahme, die gerade mal 12 Instrumente und eine Singstimme einfangen soll, dann doch ein komplexes Unterfangen, das meinen Studio-PC durchaus an seine Belastungsgrenzen brachte – und das, obwohl andere Produktionen von mir hinsichtlich der Arrangements wesentlich komplexer sind.

Das Einsingen gestaltete sich für mich sehr leicht. Mit 1862 und der Arbeit an Von neuen Früchten (VÖ: 2023) hatte ich bereits viele Erfahrungen gesammelt, sodass die Vocals für IN DER WELT – wie ich finde – zur souveränen Kür gerieten. Das, was ich an der gemeinsam erarbeiteten Interpretation mit der damaligen Sängerin gut fand, übernahm ich (oktavversetzt) – das, was mir aus heutiger Sicht weniger gefiel oder was sich textlich als nicht wirklich gut verständlich herausgestellt hatte, gestaltete ich neu. Ich wusste bei jeder Boldt-Zeile en détail, wo ich hin wollte.

Im September 2019 erfolgte der Rough-Mix, dem ich am letzten Tag noch spontan das Pfeifen in „Frauennacht“ hinzufügte, was sich m.E. gut macht, um den Text ein wenig zu brechen, ja, gegen Ende des Songs die Textbotschaft sogar ein wenig zu ironisieren…, denn der erotischste aller expressionistischen Dichter Paul Boldt wählte hier ein, zwei aus heutiger Sicht überdrastisch-leidenschaftliche Formulierungen, die ich so nicht 1:1 stehen lassen mochte… Und dann knallte es.

Mit dem Studiokopfhörer auf den Ohren gab ich händisch Zahlenwerte für eine Instrumentenlautstärke ein. Doch meine in die Jahre gekommene Tastatur nahm die Löschung einer Ziffer nicht an – mit dem Ergebnis, dass das betreffende Instrument nicht wie beabsichtigt um eine Nuance lauter erklang, sondern um ein Vielfaches. D.h., statt den standardisierten ca. 80 dB meines Studios hatte ich nach Betätigen der Enter-Taste plötzlich, ohne Vorwarnung, für mich vollkommen überraschend und ohne jegliches Anschwellen des Sounds etwa 110 dB auf dem Kopfhörer und insbesondere auf meinem linken Ohr. Innerhalb von ein, zwei Sekunden riss ich den Kopfhörer weg…

Knalltrauma nennt man so etwas. Ich aber realisierte das nicht. In erster Linie befürchtete ich, dass mein Studio Schaden genommen haben könnte… Als das nicht der Fall war, horchte ich unaufgeregt in mich hinein, merkte, okay, da ist ein Piepgeräusch, naja, logisch, kennt man von Rockkonzerten – und arbeitete weiter. Um dann am Abend hochgradig beunruhigt darüber zu sein, dass ich einen lauten Ton auf dem linken Ohr hatte. Stress? Ärger? Hörsturz? Nebenwirkung eines Medikaments? Überdruck infolge einer erkältungsbedingten Verstopfung der kleinen Röhre zwischen Nase und Ohr?          
Ich mochte nichts Hören, hatte outdoors Ohrstöpsel dabei, um mich jederzeit akustisch rausziehen zu können… wir hatten gerade Presslufthammer vor der Haustür aufgrund der Umgestaltung zur Fahrradstraße… und mein Ohr summte beim Klavierspielen auf eine fiese Art mit. Mein Hörvermögen bildet meine Arbeitsgrundlage. Dementsprechend war ich in Alarmmodus versetzt.

Erst ein paar Tage später, gegen vier Uhr früh, einige Stunden, bevor ich komplett ratlos zur HNO-Ärztin gehen wollte, fiel mir im Halbschlaf plötzlich und endlich ein, weshalb ich dieses verdammte Klingeln auf dem Ohr hatte: Da war doch was, am vorigen Donnerstag, im Studio? – Merkwürdig, wie wir manche Dinge wegdrängen können: Der Vorfall war mir tatsächlich (vorübergehend) komplett entfallen (bzw. nicht abrufbar, s.o.). Und dabei gehöre ich eher zu denjenigen, die dazu neigen – und das ist nicht immer schön – sich scheinbar alles zu merken.

Die nächsten Wochen war ich froh, wenn es ruhig um mich herum war – und ich arbeitete stattdessen weiter am Handbuch Klimakrise. Nach fünf, sechs Wochen ließ der Dauerton nach – Knalltraumata sind zum Glück i.d.R. eine vorübergehende Angelegenheit. Die Computertastatur habe ich übrigens gleich am nächsten Tag ausgewechselt.         

Dann waren erst einmal andere Projekte dran… heute schreiben wir den 5. Mai 2021: Vor einigen Stunden habe ich den Final Mix des vor etwa 23 Jahren komponierten und von mir immer noch als sirrend aktuell empfundenen Musikwerkes IN DER WELT in die Hände von Flo Siller gelegt, meinen langjährigen „Masterer meines Vertrauens“, zum (planet-friendly-)Mastering… naja, wir leben in modernen Zeiten: in seine Cloud gesendet.

Marc Pendzich.


[pdf des Werkstattberichtes]